Ein Blick aus dem Fenster offenbarte am frühen Morgen - es wird ein trüber Tag werden, in der Schachmetropole Deizisau. Der Himmel bereitete sich wohl in vorauseilendem Gehorsam auf einen tränenreichen Tag vor. Ein Blick in den Spielsaal zeigte dann Erfreuliches - die meisten Kinder und Jugendlichen hatten mittlerweile mehr Punkte als die beiden wackeren Uttendorfer, die Gnade des Schweizer Systems, bei dem immer die punktegleichen gegeneinander gelost werden, sollte also vor weiterem Ungemach schützen.
Naja - nicht ganz, denn mit Stark Sven (ELO 1825) hatte sich doch ein Jugendspieler in unsere Punktegegend verirrt und wurde prompt zum Gegner von Manfred Theussl (Weiß) auserkoren - irgendwie ziehen wir diese Nachwuchstalente an wie die Motten das Licht. Manfred spielte beherzt auf - mit schnellem Dg4 in der französischen Verteidigung. Wieder einmal entstand dann aber rasch der Eindruck, dass Manfreds Gegner die Theorie einen Tick weiter kannte und so kam es bald zu einer Stellung, die Manfreds Rechenkünste entsprechend herausforderte. Exakt zu dem Zeitpunkt, als Manfred darüber nachdachte, eine Figur zu opfern, bot Stark remis an. Manfred überlegte 30 Minuten, rechnete wie ein Computer (die älteren Leser kennen doch sicher noch diese MS-DOS Rechner mit 64 KB Hauptspeicher und einer Taktfrequenz zum selber Mitzählen - um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, diese Art Computer ist hier gemeint), konnte aber letztlich kein klares und vor allem für ihn vorteilhaftes Ende im Variantendschungel erkennen. Daher willigte er schließlich in die Punkteteilung ein. Die anschließende Analyse auf einem Computer der neueren Generation zeigte, dass Manfred's potentielles Figurenopfer von aktuellen Schachprogrammen unter der Kategorie "Einsteller" gelistet wird.
Am Nachbarbrett traf Lamberger Werner (mit Weiß) auf den einzigen Spieler, der in diesem Turnier bisher den vollen Punkt an Manfred Theussl abgegeben hat, Obermeier Michael (ELO 1931). Das weckte in Werner verhaltenen Optimismus. Mit großer Präzision memorierte er die Anfangszüge des Colle-Systems (Zuckertort!!) und kam in Rekordbedenkzeit zum achten Zug. An dieser Stelle, die geneigten Leser wissen das vermutlich, spielt man im Colle-Zuckertort gerne a3 - um lästige Springerausfälle nach b4 zu unterbinden. Im neunten Zug spielen die Schwarzen mit vergleichbarer Wahrscheinlichkeit nicht e5 - denn das hat der Weiße in den vorangegangenen Zügen energisch verhindert. Umso überraschender war es für Werner, als genau dieser an sich gar nicht mögliche Zug von Obermeier gespielt wurde. Mit ungläubigem Kopfschütteln strich Werner's Blick abwechselnd über Partieformular und Schachbrett. Da hatte sich doch tatsächlich ... also das darf doch nicht wahr sein .... da ist doch wirklich von Schwarz ein Abtausch auf d4 eingeschoben worden - wenn man diesen Umstand mal mit angemessener Ernsthaftigkeit in die Zählung der Züge mit einberechnete, dann .... ja dann war die Partie um einen Zug voraus .. oder zurück, je nach dem aus welcher Perspektive man das Phänomen betrachten wollte. Die alles entscheidende Essenz aus dieser Erkenntnis war, dass der Zug Lb2 auf dem Spielbrett noch fehlte - und daher war Werner's Druck auf e5 nicht ausreichend, um den unangenehmen Bauernzug zu verhindern. Werner sah seine Felle bereits erneut im Neckar davon schwimmen. Wie in Trance wurden die nächsten Züge gespielt, von allen Seiten drang im Geiste Manfred's samtweiche, zuckersüße Stimme an sein Ohr (O-Ton Stimme: "gegen ihn hab ich gewonnen"), als Werner von gegenüber plötzlich eine leises "Ich biete Remis!" vernahm. Selbst die phantasiebegabtesten Leser können sich das Frohlocken nicht vorstellen, das über Werner's Gesicht huschte, als er die ganze Tragweite dieser Worte endlich begriff. Da hatte einer doch tatsächlich ein Einsehen und verzichtete auf eine weitere entwürdigende Prügelei - Werner hieß einen halben Punkt auf seinem Punktekonto herzlich willkommen.
Der Italiener, der in den letzten Tagen zum Stammlokal der Uttendorfer Mannschaft erkoren worden ist, hatte aufgrund des Schachturniers den normalerweise am Montag stattfindenden Ruhetag in weiser Voraussicht auf einen anderen Wochentag verlegt. So konnten sich Manfred und Werner ein letztes Mal mit italienischen, in höchster Qualität zubereiteten, Speisen verwöhnen lassen. Für weitere Aktivitäten blieb in der Mittagspause keine Zeit - denn bereits um 14:30 Uhr sollte, dem Wunsch der Organisatoren folgend, die neunte und letzte Runde des Turniers beginnen.
Die Auslosung brachte .... erneut zwei aufstrebende Jugendspieler als Kontrahenten für die Uttendorfer.
Manfred Theussl (mit Schwarz) gegenüber nahm der Schweizer Andre Meylan (ELO 1946) Platz. Noch beim Mittagessen hatten die Uttendorfer erörtert, dass ein schnelles Remis in der Schlussrunde nicht die schlechteste aller denkbaren Möglichkeiten wäre - stand doch auch noch eine gut dreistündige Autofahrt bevor. Obwohl er erwartete, dass der junge Eidgenosse voller Ehrgeiz auch die neunte Partie des Turniers bis zum erkämpften Ende bestreiten wollen würde, bot Manfred nach wenigen Zügen Remis an - worauf der Gegner überraschender Weise sofort einwilligte.
Dem Vorbild seines Vereinskollegen folgend, bot Werner Lamberger (mit Schwarz) gegen Mijatovic Andrea (ELO 1864) ebenfalls zeitig remis an (genau gesagt bot Werner das Remis mit dem Zug an, der in der Eröffnung den Übergang vom theoretischen Wissen zum praktischen Erproben und Hoffen markierte). Es gibt Situationen, in denen es doch tatsächlich ein Vorteil ist, wenn die eigene ELO Zahl die gegnerische deutlich übersteigt. Werner's Remisangebot an Mijatovic war wohl deren eine - die junge Kroatin nahm ohne großes Nachdenken an.
Die Endtabelle weist die beiden Uttendorfer auf den Rängen 291 (Werner Lamberger) und 298 (Manfred Theussl) und damit knappe 300 Plätze hinter dem Sieger, Großmeister Pablo Lafuente, aus - daran kann man schon erkennen, was mit ein bisschen Glück bei diesem Turnier alles möglich gewesen wäre. Für beide Spieler ist das eine Platzierung weit hinter der Erwartung aus der Setzliste. Und so müssen wir, um ein abschließendes positives Resümee des Turniers ziehen zu können ein wenig ausholen: Das 14. Neckar-Open in Deizisau war ein vorbildlich organisiertes Schachevent, das Umfeld, die Spielbedingungen (wir können hier großteils leider nur die Erfahrungen aus der Hall of Shame rekapitulieren) - alles war wunderbar. Die Pizzeria direkt beim Spiellokal ist jedenfalls eine Empfehlung. Ob die Schachbücher, die während des Turniers den Eigentumswechsel zu Manfred oder Werner erfahren hatten, ihr Geld wert sind, wird sich vielleicht beim 15. Neckar Open zeigen. Kurz und knapp: Deizisau war eine Reise wert! Herzlich bedanken möchte sich an dieser Stelle noch Werner für das Geschenk, dass er von Manfred auf der Heimfahrt überreicht bekam - die "Chinese School of Chess" wird einen Ehrenplatz in Werner's Schachbibliothek einnehmen.
(Autor: Werner Lamberger)
2 Kommentare:
Grats euch zwei
3,5 sind ja 50%
aus 7 partien
blöd nur das ihr 9 gespielt habt
aber tolle berichte
lg Heinz
Danke für die tollen und lustigen Berichte!
Wenn Werner bei SBS einmal brotlos werden sollte, soll er zu schreiben beginnen.
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